Der Jahresrückblick 2016
Ein Weiser aus dem nahen Osten hat sich einmal zu der programmatischen Aussage hinreißen lassen: „Vorwärts immer – rückwärts nimmer!“ Angenehmer Sprachrhythmus und wahrer Kern – aber für dieses Mal müssen wir eine Ausnahme machen, denn 2016 war schon ein besonderes Jahr für den Hugo-Distler-Chor Berlin und seine Hörer: Der Chor hat der Deutschen Bahn einen Rekordumsatz beschert, in alle europäische Himmelsrichtungen musikalisch-politische Brücken geschlagen und dabei seinem Publikum spannende, angenehme, verzaubernde Momente geschenkt. Aber der Reihe nach…
Leipzig ohne Konfessionsschranken (27./28. Februar 2016)
Alljährlich wird wenigen auserwählten Chören die Ehre zuteil, den Thomanerchor während der Samstagsmotette in St. Thomas zu vertreten. In diesem Jahr hat auch der Hugo-Distler-Chor Berlin das kritische Leipziger Publikum überzeugen dürfen. Und das mit einer ganz besonderen inneren Freude – kamen doch an diesem Ort die ersten chormusikalischen Werke und Orgelvariationen des jungen, hochbegabten und -empfindsamen Studenten Hugo Distler in den 30er Jahren erstmals zur Aufführung. An diese Tradition galt es anzuknüpfen und so brachte der Hugo-Distler-Chor Berlin die tief berührende Komposition „Ich suche allerlanden eine Stadt“ des Mitsängers und ehemaligen Thomanerpräfekten Reimar Johne zur Entfaltung – zum ersten Mal in seiner Heimatstadt Leipzig. Mit der Unterstützung von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Kreuzkantor Mauersberger, Heinrich Schütz und John Rutter geleitete der Chor die zahlreichen Motettenbesucher durch die Jahrhunderte und sicherte sich die Einladung der Kirchenmusiker an der Thomaskirche für eine weitere Motette in nicht allzu ferner Zukunft.
Das Überwinden von musikalischen, konfessionellen, kulturellen Grenzen ist dem Hugo-Distler-Chor Berlin sehr wichtig: So war die Gestaltung des
Sonntagsgottesdienstes im größten katholischen Kirchenneubau nach der Wende – der Propsteikirche St. Trinitatis – Selbstverständlichkeit und große Befriedigung zugleich: Die einzartige, explizit auf Kirchenmusik ausgelegte Bauweise des schlichten wie beeindruckenden Gebäudes bescherte ein wunderbares Klangerlebnis für Chor und 400 Gottesdienstbesucher. Das ruhig-filigrane „Herr, auf Dich traue ich“ (Schütz) wurde ebenso wie Mendelssohns kraftvolle Doppelchormotette „Warum toben die Heiden“ vom Kirchenschiff in die Herzen getragen.
1. Heimspiel: Musik des Dunkels und des Lichts (12. März 2016)
Ein Heimspiel ist üblicherweise eine ausgelassene Veranstaltung mit recht klarem Punktsieg für den Gastgeber. Im Ergebnis war das gestrenge „Tenebrae – Musik des Dunkels und des Lichts“ in der Kirche Am Hohenzollernplatz auch ein voller Erfolg, aber auch ein Zielpunkt intensiver Vorbereitung: Das a cappella-Programm gliederte sich im Stil und der Tradition christlicher Karmetten um die „Lamentationes“ des Renaissance-Komponisten Tomás Luis de Victoria (nach den Klageliedern Jeremiae) und die „Tenebrae“ des Zeitgenossen Enjott Schneider (für Sopran, Violine und Orgel). In dieses dunkle Umfeld höchster Intensität bettete der Hugo-Distler-Chor Berlin Werke wie „Warum ist das Licht gegeben“ (J. Brahms), „Wie liegt die Stadt so wüst“ (R. Mauersberger) und „Hymn to the Creator of the Light“ (J. Rutter). Kammermusikalisches Repertoire möchte man meinen – doch in diesem Konzept-Konzert in seiner stringenten positiven Anspannung eine echte Herausforderung, die ihre Erfüllung in Allegris flehend-kontemplativen Miserere fand.
Die Neue – Stimmbildnerin Angela Postweiler
Im Sommer 2016 war die Freude groß: Die Stimmbildungsabteilung bekam Zuwachs… Der über lange Jahre liebgewonnene Stimmbildner Martin Netter suchte Unterstützung und fand sie in Angela Postweiler. Angela steht für ein breites (inneres und äußeres) Lächeln, hohe Präzision und eine echt große Stimme. Sie lebt als freischaffende Sängerin und Pädagogin in Berlin und beschäftigt sich besonders gerne mit innovativen szenischen Produktionen, die Gestaltungselemente aller Kunstsparten beinhalten. Ihre Auftraggeber sind u.a. die Komische Oper, der RIAS Kammerchor und das Vokalconsort Berlin. Mit dem ersten Einsingen hatte der Chor die in Freiburg und Bremen ausgebildete Sopranistin ins Herz geschlossen. Und spätestens nach der zweiten Chorkneipe im Szenelokal um die Ecke war sie „eine von uns“.
The East-Western Magnificat – Ein deutsch-polnisches Gemeinschaftsprojekt (24. September / 22. Oktober)
Die Idee entstand im Frühjahr 2015 – Breslau sollte eine der europäischen Kulturhauptstädte des Folgejahres sein und war nicht allzu weit entfernt von Berlin. Da lag ein dortiges Konzert nahe. Der verlässliche Freund und Förderer des Hugo-Distler-Chores (Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten) würde sich freuen und der Chor könnte nach der letzten Reise in Richtung Paris (Herbst 2015) abermals seinem Bestreben nach internationalem Kulturaustausch gerecht werden. Doch ein Konzert ist für eine solch große Idee freilich wenig – also galt es dort wie hier aufzutreten. Hunderte Antragsseiten und ungezählte Telefonate sowie Mails später erreichte der Hugo-Distler-Chor Berlin am 20. September polnischen Boden – in Frieden und mit großer Vorfreude. Projektpartner war das „NFM Leopolodinum Kammerorchester“ der Breslauer Philharmonie – eines der herausragenden Orchester Polens, angeführt von dem leidenschaftlichen Bratschisten, Orchesterleiter und Hochschullehrer an der UdK Berlin Prof. Hartmut Rohde. Gut aufgelegt und vorbereitet ging es an die Werke: Drei Magnificats standen auf dem Programm. Der Pole Prof. Pawel Lukaszweski und der Brite Tarik O´Regan bildeten den zeitgenössischen Kranz um das barocke lobsingende Marienhaupt – in seiner Vertonung des für seine Zeit recht progressiven Deutschen und Bachsohns Philipp Emanuel. Bei Festlegung des Programms ahnte noch niemand von den überraschenden Brexit-Bemühungen des Inselvolks. So wendete sich die Intuition des Konzerts zum Zeitpunkt seiner Aufführung in der Marienkathedrale zu Breslau vom Brückenschlag mit Blick auf den ehemaligen Ostblock hin zu einem hoffnungsvollen Lobgesang gen Westen. Für den Chor ein außergewöhnlicher Moment als Teil gelebter (Kultur-)Geschichte.
Der Chor hatte auch im Sinne der öffentlichen Kulturförderung und politischen Institutionen eine Nerv getroffen: Nur durch die großzügige finanzielle Unterstützung der „Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit“ konnte das Projekt Realität werden. In Breslau sensibilisierte die stellvertretende deutsche Generalkonsulin Christiane Botschen in ihren einleitenden Worten für die verbindende Kraft der Musik und die gesellschafts-politische Dimension solcher Kulturkooperationen. Einen Monat später im Kammermusiksaal der Philharmonie war es der Regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller, der in seinem Grußwort Chor und Orchester für die stetigen Bemühungen um internationalen kulturellen Austauschs dankte. Dieses Projekt machte deutlich, was Chormusik und Chorarbeit zu leisten imstande ist: „Musik verbindet.“ ist weder platter Slogan noch leere Floskel.
Das Konzert aus dem Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie wurde durch das Deutschlandradio Kultur live aufgezeichnet und schon am Folgetag in der Primetime-Reihe „Konzert“ gesendet.
Daumen hoch für den HDC! FACEBOOK
Schon in 2015 wurde der Webauftritt (www.hugo-distler-chor.de) recht erfolgreich ins aktuelle Jahrtausend überführt. Zur gleichen Zeit wurde die Facebook-Fanpage reaktiviert und im Laufe des vergangenen Jahres zur rege genutzten Informations- und Unterhaltungsquelle. Nicht nur für die Chormitglieder und Konzertbesucher: Auf der Chronik und in den Chats sind auch regelmäßig internationale Komponisten, Chorleiter und viele weitere Künstler, mit denen der Chor Produktionen realisiert hat, zu Gast. Nicht zuletzt dienen die sozialen Online-Auftritte des Ensembles zur Orientierung für SängerInnen auf Chorsuche. So haben die Seiten auch in 2016 wieder wunderbare Stimmen und liebenswerte Charaktere auf den Hugo-Distler-Chor Berlin aufmerksam gemacht. Außerdem: In diesem Medium voller negativer Gedanken und wehrloser Tierkinder muss es auch gute Inhalte geben. Der Hugo-Distler-Chor Berlin kümmert sich drum und sagt „Daumen hoch“ für alle Facebook-Freunde und die, die es werden wollen.
DAS Weihnachtsoratorium – Heimspiel #2 (11. Dezember)
Weihnachtsoratorium? Ehrlich?! Das stand mindestens zehn Mal alleine am dritten Adventswochenende in Berlin auf den Spielplänen. Warum musste der Hugo-Distler-Chor, der sich doch musikalische Innovation in großen Lettern auf die Fahnen malt, noch eine weitere „WO“-Produktion einreihen? „Die Frage ist eher: ‚Warum nicht?’ Es ist einfach eines der herausragenden Werke der Musikgeschichte und ein wunderbares Werk, das jedem Sänger Spaß macht.“ Und Chorleiter Stefan Schuck behielt Recht. Es sollte eine außergewöhnlich inspirierende Probenarbeit werden. Fast jede und jeder der vierzig Sängerinnen und Sänger kannte den Notentext, von Beginn an konnten die facettenreichen Choräle ihre besondere Farbe bekommen und die Chöre ihre einzigartige Virtuosität entfalten. „Diese Hoffnung, dass das ganze Bemühen im Leben nicht umsonst ist, wird so jubelnd, so tiefsinnig, so farbig ausgedrückt wie in fast keiner anderen Musik“. Ein wahres Heimspiel – in Bachs musikalischen Welten muss man sich einfach zu Hause fühlen. Dieses Weihnachtsoratorium wurde in der ausverkauften Kirche Am Hohenzollernplatz zu einem Höhepunkt der gesanglichen Leistung und des gemeinsamen chorischen Empfindens des Jahres 2016. Gleichsam ein passender Abschluss für ein nicht ganz gewöhnliches Jahr, in dem sich der Chor sozial, musikalisch und fremdsprachlich („Piwo prosze. Dziekuje.“) wieder ein gutes Stück entwickeln konnte.
Die Pläne für 2017…
… sind geschmiedet, die Senatsförderung bestätigt. Auf den Programmen stehen Vivaldis erstmalig rekonstruierte Marienvesper (Am 27. Mai 2017, 20:00 im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin, gleich weitersagen!), a-cappella-Reformationen aus Renaissance und Moderne sowie kammermusikalische Fundstücke von Respighi und Haydn zur Weihnachtszeit.
Wir freuen uns drauf, unsere Klanglichkeit immer wieder neu zu entdecken und in die Herzen unserer Hörer zu tragen!
Hugo-Distler-Chor Berlin, im Februar 2017